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Regionale Beziehungen.

Eine Geschichte der Polislandschaft des südwestlichen Kleinasien in früh- und hochhellenistischer Zeit anhand ihrer ortsübergreifenden Verbindungen.

Latmischer Golf
Latmischer Golf

Entstehung: Die Arbeit wurde im Sommer 2015 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg eingereicht. Den Impuls zur Beschäftigung mit dem hellenistischen Kleinasien gab meine Magisterarbeit zum Verhältnis von Stadt und Umland in Milet; mit der Erschließung des Themas konnte 2007 begonnen werden. Parallel zur Arbeit an der Dissertation habe ich eine Reihe weiterer Projekte verfolgt, so die Mitarbeit an mehreren archäologischen Feldforschungsprojekten und bei der Publikation der Ergebnisse aus Nysa und Banteay Srei.

Ansatz: Die althistorische und archäologische Erforschung nimmt häufig entweder einen eng lokalen Blickwinkel ein oder befasst sich in sehr großem Maßstab mit ganzen Reichen, hier speziell den hellenistischen Königreichen. Seltener wird dezidiert die regionale Ebene untersucht, so liegen etwa Studien zu einigen archäologischen Landschaften vor. Dabei ist gerade die Betrachtung der überörtlichen, aber nicht von den einzelnen Gemeinwesen und ihrer Einwohnerschaft entkoppelten regionalen Ebene auch für das Verständnis der historischen Entwicklung sehr vielversprechend.
Denn die gesellschaftliche und politische Entwicklung in den griechischen Städten vollzog sich genau in Interaktion mit den Orten und Menschen in ihrer Nachbarschaft. Ohne diese hätte es weniger Handel, weniger Heiraten und weniger landwirtschaftlichen Güteraustausch gegeben, mit ihnen gab es allerdings auch zahlreiche Probleme wie Streitigkeiten um Ressourcen, besonders Land, Konkurrenz um Ansehen und Wohlstand. Kurz: man konnte weder mit noch ohne die Nachbarn auskommen.
Die Untersuchung erschließt deshalb die Entwicklung im südwestlichen Kleinasien aus regionaler Perspektive, und zwar insbesondere durch die Betrachtung der ortsübergreifenden Beziehungen auf persönlicher und politischer Ebene.

Hafen von Iasos
Hafenbucht von Iasos

Historische Voraussetzungen: Der Küstenbereich des südwestlichen Kleinasien und die vorgelagerten Inseln sind einerseits schon früh von griechischen Siedlungen geprägt gewesen. Andererseits zählt das karische Binnenland zu den noch spät stark von indigenen Traditionen geprägten Gegenden, und bis weit in das 4. Jh. v. Chr. ist die karische Sprache auch in Inschriften gebräuchlich.
Im 4. Jh. v. Chr. standen große Teile des Untersuchungsgebiets unter der Herrschaft der hekatomnidischen Fürsten, die Karien als Satrapen des Perserreiches kontrollierten, jedoch hinsichtlich kultureller und politischer Gepflogenheiten der griechischen Welt ausgesprochen zugewandt waren. Die „Hellenisierung“ Kariens gewann hierdurch schon in den beiden Generationen vor Alexander dem Großen starke Dynamik. Beispiele, die in die hellenistische Epoche ausstrahlten, sind politische Umstrukturierungen, durch die das traditionell von kleinteiligen dörflichen Siedlungen geprägte Gebiet eine hierarchischere Gliederung erfuhr (Halikarnassos, Amyzon), und die Aufwertung regionaler Heiligtümer, von denen mehrere im 4. Jh. nach griechischem Modell ihre erste architektonische Fassung erhielten (Zeus von Labraunda, Hlgt. des Sinuri, Artemis von Amyzon).

Blick von Labraunda
Blick von Labraunda nach Milas

Nach dem Alexanderzug berührten sich in der Gegend mehrere Machtbereiche, nämlich der seleukidische, der ptolemäische, der antigonidische und später auch der attalidische, also jene der syrischen, ägyptischen, makedonischen und pergamenischen Könige. Bis zur Einrichtung der römischen Provinz Asia in der 2. Hälfte des 2. Jhs. v. Chr. brachten das Erstarken oder Schwächephasen dieser Herrschaften wiederholt Konflikte in die Gegend und die politische Zugehörigkeit zahlreicher Orte wechselte. Zugleich bedeutete dies aber auch, dass die Poleis immer wieder Phasen verhältnismäßig großer politischer Freiheit erlebten, in denen sie nach Kräften ihre eigenen Interessen verfolgten. Beides führte zu einer beachtlich dynamischen Regionalentwicklung, an deren Ende sich das Polisgefüge herausgebildet hatte, das Kleinasien durch die römische und bis in die byzantinische Epoche prägte.

Quellen: Für die über die einzelne Polis hinausreichenden Beziehungen bieten Steininschriften den aussagekräftigsten Bestand. In ihnen sind Sachverhalte auf Dauer niedergelegt worden, weshalb sich in größter Zahl Urkunden finden, deren Inhalt von kurzen listenartigen Einbürgerungsvermerken über Urkunden zu Landpacht und -kauf bis zum langen, detaillierten zwischenstaatlichen Abkommen reicht. An privat gesetzten Inschriften sind in erster Linie die nicht übermäßig häufigen Grabinschriften Fremder mit Nennung des Herkunftsortes von Interesse.
Der Bestand an bekannten Inschriften ist von Ort zu Ort und zwischen den Textgattungen höchst unterschiedlich. Für die regionale Entwicklung lassen sich diese Texte vor allem durch drei weitere Gruppen von Zeugnissen sinnvoll ergänzen. Selbstverständlich ist die Heranziehung der literarischen Überlieferung, die das Untersuchungsgebiet jedoch fast nur dort streift, wo die Gegend von Feldzügen und machtpolitischen Verschiebungen betroffen war.
Die lückenhafte Kenntnis zur Ortsgeschichte kann durch eine Betrachtung der hellenistischen Prägetätigkeit verbessert werden, die vor allem zur Prosperität und politischen Eigenständigkeit weniger bedeutender Orte Aussagen erlaubt.
Einleuchtend ist, dass zum Verständnis der regionalen Geschichte eine genaue Vorstellung der historischen Geographie unerlässlich ist. Obwohl bereits seit Beginn der genaueren archäologischen Erforschung im 19. Jh. historisch-geographische Untersuchungen unternommen wurden und gerade in der älteren Zeit auch wertvolle Karten entstanden sind, bestehen hier große Lücken.

Leitfragen: Der Weg von den vorhellenistischen Strukturen zum konsolidierten Gefüge in der römischen Provinz Asia ist weder direkt noch zwingend. Die Untersuchung widmet sich deshalb jenen Faktoren, die diese Entwicklung beeinflusst haben, und zwar vor allem denen, die sich im ortsübergreifenden Handeln Einzelner oder der gesamten Poleis als stadtstaatliche Bürgergemeinschaften zeigen. Die Entwicklung des regionalen politischen und gesellschaftlichen Gefüges ist auch von der großen Politik beeinflusst, doch entscheidend sind die sehr langfristig verlaufenden eigendynamischen Prozesse, in denen einzelne Poleis an Bedeutung gewinnen, andere verlieren. In deren Verlauf kann herscherrliches Handeln Impulse geben oder günstige Situationen schaffen, doch auch Zeiten schwacher Herrschaft oder Konflikte um die Oberhoheit konnten Dynamiken in Gang setzen.
Es wurden folgende Komplexe beleuchtet:

  • Historischer Rahmen: allgemeine machtpolitische Entwicklung, soweit für die Gegend von Belang.
  • Historische Geographie: naturräumliches Potential in den verschiedenen Polisterritorien und räumliches Verhältnis der Akteure zueinander.
  • Individuelle Mobilität: ortsübergreifende Beziehungen aus persönlichen Motiven und durch offizielle Vertreter der eigenen Polis.
  • Verhältnis der Poleis zueinander: 1. Konflikte und ihre Lösung
  • Verhältnis der Poleis zueinander: 2. Kooperative Praktiken und gesellschaftliche Vernetzung, durch Abkommen und besonders den Austausch auswärtiger Richter und Schiedsrichter.

Vorgehen und Teilergebnisse: Die hier nur als allgemeiner Handlungsrahmen für die Städte wichtigen wechselnden Geschicke der hellenistischen Reiche im südwestlichen Kleinasien wurden anhand der einschlägigen literarischen und inschriftlichen Überlieferung skizziert. Die Datierung von zwei Sachkomplexen konnte bislang nicht abschließend geklärt werden, ist aber wichtig für das Verständnis der Gesamtentwicklung. Es handelt sich zum einen um mehrere, teils kriegerisch ausgetragene Landkonflikte im unteren Mäandertal nach dem Feldzug Philipps V., an denen Milet, Herakleia, Magnesia und Priene direkt beteiligt waren und die indirekt auch den kleinen Ort Pidasa betrafen, vielleicht auch Amyzon und sicher die Machtbalance zwischen Milet und seinen östlichen Nachbarn Euromos und (jenseits davon) Mylasa. Zum anderen ist die Binnenentwicklung Mylasas in Teilen chronologisch nur unbefriedigend zu fassen. Der Aufschwung dieser Polis gewann vor allem nach Mitte des 3. Jhs. an Dynamik, nachdem die Stadt eine seleukidische Bestätigung ihrer Autonomie erhalten hatte, die vermutlich mit der politischen Zuordnung kleinerer Orte und Heiligtümer verbunden war. Für die Integraton von Olymos im Nordwesten des Stadtgebiets in die Polis, indirekt auch für jene von Labraunda, Sinuri und Hydai, ist vor allem die Chronologie und der Hintergrund der zahlreichen Landurkunden aus Olymos relevant, deren Sequenzierung und absolute Einordnung kritisch geprüft und ergänzt wurden.

Ebene von Euromos
Ebene von Euromos

Um ein adäquates räumliches Verständnis zu ermöglichen, wurde im Zuge des Projekts eine topographische Karte im M. 1:100.000 erstellt (Beispiel: bei Ephesos, 446kb), aus der sich zum einen die Entfernung und Wegbarkeit zwischen den untersuchten Orten entnehmen lässt und die zum anderen eine satellitengestützte Klassifikation der heutigen (2003) Landnutzungszonen enthält, aus denen immerhin allgemeine Rückschlüsse auf das landwirtschaftliche Potential der verschiedenen Subregionen gezogen werden können, obwohl sich die Nutzungsintensität und tatsächliche Konfiguration in früh- und hochhellenistischer Zeit auf dieser Grundlage nicht im Einzelnen nachzeichnen lassen. Diese beiden Aspekte wurden anhand der zugrundeliegenden Daten in einem geographischen Informationssystem untersucht; dabei kamen die etablierten, leistungsfähigen und quelloffenen Programme GRASS GIS und Quantum GIS zum Einsatz. Länge und Höhenprofil exemplarischer möglicher Wegverbindungen wurden mit einem anisotropen Modell menschlicher Fortbewegung im Gelände berechnet. Die grundsätzliche Eignung des Modells konnte anhand der an einigen Stellen nachgewiesenen antiken Wegverläufe gezeigt werden, ausserdem erlaubte der Vergleich mit tatsächlichen Strecken eine Anpassung der Modellparameter, um die mediterranen Klima-, Terrain- und Nutzungsbedingungen (besonders den regelmäßigen Einsatz von Lasttieren) möglichst gut widerzuspiegeln.
In den beiden folgenden Hauptabschnitten wurde der Austausch auf individueller und kollektiver Ebene vorwiegend anhand des inschriftlichen Materials untersucht. Die Mobilität von Einzelpersonen lässt sich anhand der Verleihung von Ehrenrechten, namentlich des Bürgerrechts und der Proxenie nachvollziehen. In vielen Fällen steht der Aspekt der Ehrung im Vordergrund, häufig dokumentieren die erhaltenen Inschriften ausdrücklich Ehrendekrete der Bürgerschaft für die Betreffenden. Wie sich an anderen Belegen zeigen lässt, kam aber die Verleihung des Bürgerrechts als wichtigstes Privileg einer Polis regelmäßig auch aus schlichteren Gründen vor, nämlich um im Fall dauerhafter Übersiedlung eine rechtliche Gleichstellung der Zugezogenen zu erreichen. Anders als bei den häufig auch diplomatisches und administratives Personal der Herrscher betreffenden Ehrenbeschlüssen zeigt sich bei den einfachen Einbürgerungen deutlich häufiger eine Herkunft aus direkt oder mindestens regional benachbarten Poleis. Die besondere Bedeutung des regionalen Personenaustauschs bestätigt sich bei der Durchsicht der Grabinschriften, in denen ebenfalls merklich häufiger Menschen aus der regionalen Nachbarschaft erscheinen als solche aus fernen Gegenden. Auch die Münzprägung erlaubt es, eine besondere Bedeutung der näheren Umgebung festzustellen, und zwar in zweierlei Hinsicht. Während Großsilber vorwiegend dem Außenhandel diente und sehr weite räumliche Verbreitung erreichte, ist für die niederwertiger eingesetzte Bronzeprägung anhand der Hortfunde klar nachzuweisen, dass ein lokaler und regionaler Umlauf charakteristisch ist. Damit geht als zweiter Aspekt einher, dass genau die Bronzeprägungen besonders geeignete und dementsprechend beliebte Träger örtlicher Bildprogramme waren, eben weil sie ein Zielpublikum in der eigenen Polis und den Nachbarorten erreichten. Dieser Personenkreis konnte die Bezugnahme auf lokale Mythologie und Geschichte, aber auch politisch aufgeladene Motive angemessen würdigen.
Die Beziehungen auf Ebene der gesamten Poleis schließlich lassen sich erst auf der Grundlage dieser historischen und räumlichen Vorbedingungen und angesichts der Nachweise für intensiven ortsübergreifenden Austausch von Einzelpersonen angemessen einordnen. Wesentlich sind die beiden Gesichter der Nachbarschaft, Konflikt und Kooperation. Die meisten unmittelbaren Nachbarorte hatten miteinander Grenzstreitigkeiten, von denen manche nur kurzzeitig zu fassen sind, sehr viele aber über Generationen immer wieder aufflammten. Brisant konnten die Landkonflikte dann werden, wenn die betroffenen Ressourcen wirtschaftlich sehr bedeutend oder sogar existentiell für eine Seite waren, oder wenn sich in ihnen zugleich ein machtpolitisches Ungleichgewicht zwischen den Konfliktparteien manifestierte. In diesen Fällen konnte die Auseinandersetzung um Land Vorbote davon sein, dass die politische Eigenständigkeit eines kleineren Gemeinwesens bedroht war.
Viele der erhaltenen längeren Abkommen sind primär oder zum Teil mit der Beilegung solcher Konflikte befasst oder beugen künftigen vor, indem zwischenstaatliche Rechtsinstrumente zur Streitbeilegung etabliert wurden. Liegt schon hierin ein stärker kooperativer Zug, so gilt das erst recht für die große Gruppe von Beschlüssen mit wechselseitiger Privilegienverleihung. Die Bandbreite reicht hierbei von der Vereinbarung von rechtlichen Schutzprinzipien für Fremde bis zur vollwertigen Isopolitie, in der den Bürgern einer anderen Polis das vollwertige Bürgerrecht zugestanden wurde, also die rechtliche Gleichstellung mit Einheimischen. Diese Texte zeigen bereits eine dichte und bis ins 2. Jh. zunehmende Vernetzung der Poleis im westlichen Kleinasien. Diese lässt sich exemplarisch weiterhin an einer Institution belegen, die regelmäßig wiederkehrenden und diplomatisch hochbedeutenden Austausch von Einzelpersonen mit sich brachte: die Stellung auswärtiger Richter für Streitigkeiten innerhalb einer Polis und Schiedsgerichte zur Konfliktbeilegung zwischen Städten.

Ergebnisse: Insgesamt konnte gezeigt werden, wie eigenständig die Poleis des südwestlichen Kleinasien in früh- und hochhellenistischer Zeit Politik betrieben, sobald ihnen die Rahmenbedingungen den Raum dazu ließen. Das Vorhandensein einer trotz aller Krisen verhältnismäßig stabilen Machtordnung in Form vor allem des seleukidischen, ptolemäischen und antigonidischen Reiches begünstigte diese Entwicklung, obwohl sie zugleich dem Streben der größeren Orte nach stärkerem politischen Einfluß entgegenstand. Da das untersuchte Gebiet außerdem an der Schnittstelle mehrerer Machtbereiche und zusätzlich im Einflußbereich des aufstrebenden Rhodos lag, kam es trotz verbindender Institutionen (Chrysaorischer und Ionischer Bund) auch nicht zu einer politischen Einigung des gesamten Gebietes, sondern nur zu begrenztem Machtzuwachs der großen Metropolen. Damit war schließlich der Weg vorgezeichnet zur politischen Landkarte des kaiserzeitlichen Kleinasien, die von bedeutenden Großstädten mit teils sehr weitläufigem nachgeordneten und oft politisch abhängigen Umland dominiert war.



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